Die Zauberwelt der Mathematik ...

oder wie Valerie das Rechnen lernte

Montag früh. Ich rühre in meinem Muntermacherkaffee, stochere verschlafen in meinem Müsli und schaue in die Nebelschleier, die meinen herbstlichen Garten auf den Winterschlaf vorbereiten. Jäh reißt mich das Läuten des Telefons aus meinem morgendlichen Träumelinchenzustand. Im September hat die Schule begonnen und schon jetzt - 8 Wochen später - klingelt das Telefon häufiger als sonst. Lehrer drücken auf den Alarmknopf mit der Aufschrift Legasthenie, Rechenschwäche, ADHS usw. und aufgescheuchte Eltern suchen nach Hilfe. Was ist los mit meinem Kind?  „Ich bin erschrocken, als mir die Lehrerin meines Sohnes gesagt hat, er könne sich nicht konzentrieren“ berichtete mir unlängst eine engagierte Mama.

 

Aber der morgendliche Anruf ist von einem meiner eigenen Kinder, die einen Dienst von Hotel Oma&Opa brauchen. Ja, inzwischen ist aus Hotel Mama&Papa die nächste Generation geworden. Nach der Abstimmung mit meiner Schwiegertochter - Opa wird den Nachmittag mit unserem Enkelchen gestalten -  nehme ich meinen Terminkalender, um nachzusehen, welche Kinder mit ihren Eltern heute Nachmittag in meine Praxis kommen werden ...

 

 

15:00

Valerie Y. steht da geschrieben.

 

Ich hole mir die Erinnerung an das Kennenlernen und die erste Diagnostik.

Valerie sieht man es schon von weitem an. Die starke Brille, der stets leicht geöffnete Mund, die unkoordinierten Bewegungen … sie hat es bestimmt schwer, in der Welt der Schule zurechtzukommen. Speziell beim Rechnen scheinen die Barrieren einfach unüberwindbar zu sein, habe ich beim Erstgespräch erfahren. Mama, sie ist Neurologin, weiß um die Behinderung ihrer Tochter. Ursache: unbekannt … und als Neurologin hat sie wohl alles versucht. Geblieben ist das Gefühl: „Bin ich schuld?“ und „Ich tue alles, um meinem Kind zu helfen.“ 

 

Auf meine Nachfrage, was für sie das Ziel des Lerntrainings sein könnte, kam eine berührende Antwort: „Ich wünsche mir so sehr, dass Valerie einmal ein eigenständiges Leben führen kann.“ Wie bescheiden und doch wie riesig dieser Wunsch ist! Bescheiden im Vergleich mit Eltern, die ihr Kind zu mir bringen, weil es doch aufs Gymnasium gehen soll, riesig, weil ich mir Valerie und ihre Lernschwierigkeiten vorstellen kann. Die Ergebnisse der Diagnostik zeigen deutliche kognitive Entwicklungsrückstände und Teilleistungsschwächen in vielen Bereichen auf.